Unter Druck

Von der Krise zur Krankheit

Studium – die beste Zeit des Lebens? Nicht für alle. Jeder sechste Student war schon einmal wegen psychischer Probleme beim Arzt. Warum viele so spät Hilfe suchen.

Drei Mal klopft es laut an der roten Zimmertür, aber Marcel Bischofberger kann sie nicht öffnen. Ein „Herein!“ oder „Ja?“ bekommt er nicht über die Lippen. Wie versteinert steht er hinter der Tür seines Zimmers im Studentenwohnheim, sein Herz rast. Er hat Angst.

Wer ist das? Was will er von mir?

Gleich darauf schiebt jemand einen Zettel unter dem Türschlitz durch. Es ist die Einladung zu einem geselligen WG-Abend. Etwas, das Marcel schon sehr lange nicht mehr gemacht hat. Seit Wochen schläft er viel, verlässt tagelang nicht sein Zimmer, isst kaum. Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Er hat Depressionen.

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Marcel Bischofberger ging es so schlecht, dass er nicht einmal mehr die Tür seines Zimmers öffnen konnte.
Marcel Bischofberger ging es so schlecht, dass er nicht einmal mehr die Tür seines Zimmers öffnen konnte. Foto: Julia Seeger

Jeder sechste Student ist betroffen

Knapp eine halbe Million der 18- bis 25-jährigen Studenten in Deutschland waren laut einer Studie der Barmer Krankenkasse mindestens einmal wegen psychischer Probleme beim Arzt, das ist jeder Sechste. Jeder Zwanzigste hat Depressionen wie Marcel.

Und es werden immer mehr. „Wir haben im letzten Studienjahr 858 Beratungsgespräche geführt, das waren zwölf Prozent mehr als im Jahr davor“, sagt Psychologe Volker Koscielny von der psychologischen Beratungsstelle der Universität Münster. Das sind nur die Zahlen derer, die sich Hilfe suchen, hinzu kommt die Dunkelziffer.

Dabei müsste es gar nicht so weit kommen. Eigentlich gibt es genug Anlaufstellen für Studenten, die überfordert sind, die Ängste haben und nicht mehr weiter wissen. Sie sollen verhindern, dass aus Problemen Krankheiten entstehen. Doch viele scheuen sich, sie rechtzeitig zu nutzen.

Psychische Krankheiten: kaum thematisiert

Spricht man mit Therapeuten und Betroffenen, stellt sich heraus, dass über psychische Krankheiten und den Umgang damit an Universitäten kaum offen gesprochen wird. Stattdessen versuchen viele zu lange, alleine zurecht zu kommen.

Marcels Moment an der Tür liegt inzwischen fünf Jahre zurück, 23 war er damals. Heute weiß er: „Ich hätte mir früher Hilfe suchen müssen.” Das Klopfen damals war ein Weckruf. Noch in derselben Nacht schrieb er eine E-Mail an die Beratungsstelle des Studentenwerks München. Er erinnert sich noch genau daran, wie er auf dem Bett saß, um ihn herum die weißen, kahlen Wände seines kleinen Zimmers. Zum Einrichten und Dekorieren hatte ihm in den Monaten seit seinem Einzug die Kraft gefehlt.

Angefangen hatte es mit der Trennung von seiner Freundin. Er litt unter Liebeskummer, zog sich immer weiter von Familie und Freunden zurück. „Für mich war es wie ein großes Nichts. Leere, mit der ich einfach abschließen wollte.”

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Dieser kleine Teddybär hat Marcel in seiner schweren Zeit Kraft gegeben.
Dieser kleine Teddybär hat Marcel in seiner schweren Zeit Kraft gegeben. Foto: Julia Seeger

Einige Tage nach der E-Mail sprach Marcel mit einem psychologischen Berater des Studentenwerks, der ihn an einen festen Therapeuten vermittelte.

Angst vor dem Stigma
Psychologe Volker Koscielny aus Münster berät Studenten bei psychischen Problemen.

Psychologe Volker Koscielny.
Foto: WWU, ZSB

Volker Koscielny ist seit 15 Jahren so ein Berater. Sein Büro am Schlossplatz in Münster ist klein und schlicht eingerichtet: Landschaftsbilder an den Wänden, Zimmerpflanzen auf der Fensterbank. Wer hier angekommen ist, hat einen wichtigen Schritt gewagt. Einen, der vielen nicht gelingt: Knapp ein Drittel derer, die zu ihm kämen, täten dies zu spät. Dabei sind psychische Krankheiten längst kein gesellschaftliches Tabu mehr. Fachleute wie Koscielny sehen eher die Angst der Betroffenen vor dem Stigma als das Stigma selbst.

„Wir beobachten, dass es tabu-beladen ist, selbst psychische Probleme zu haben“, sagt Koscielny. Bei anderen sehen viele junge Erwachsene die Notwendigkeit, Unterstützung von außen zu holen. Betrifft es sie selbst, gestehen sie sich aber nicht ein, dass sie Hilfe brauchen.”

David Ebert, Psychologe an der Universität Erlangen-Nürnberg sieht noch einen anderen Grund dafür, dass viele nicht zum Arzt gehen: Sie nähmen sich nicht als krank wahr und wollten alleine mit ihrer persönlichen Last zurechtkommen. Sie bräuchten niedrigschwellige Angebote, die nicht gleich therapeutischen Charakter haben.

Anonymes Zuhörertelefon soll Hemmschwelle nehmen
Das Logo der Nightline München

Logo: Nightline München

Genau da setzt die Nightline an. Ein Zuhörertelefon von Studenten für Studenten, das es an 16 Universitäten in Deutschland gibt. Das oberste Prinzip: absolute Anonymität. Niemand darf wissen, wer für die Nightline arbeitet, niemand darf wissen, wo das Büro ist. Selbst die Farbe der Möbel soll geheim bleiben. Damit will die Nightline Betroffenen die Angst nehmen: „Die Anrufer sollen sich anonym aufgehoben fühlen“, sagt Sarah Müller, die in München Jura studiert und ihren richtigen Namen – gemäß der Philosophie der Nightline – nicht nennen will. Sie wollte sich neben ihrem Studium noch sozial engagieren.

So sind auch viele ihrer Kollegen zur Nightline gekommen. Studienfach und Alter sind für ihre Mitarbeit nicht relevant. Bevor sie mit dem Telefondienst anfangen, erhalten sie zwei Tage lang Gesprächsschulungen. Sinn der Nightline ist es laut Müller, nicht zu beraten, sondern zuzuhören. Wenn der Anrufer schwere Probleme hat, vermitteln sie ihn an professionelle Berater.

Im Durchschnitt rufen pro Woche gerade einmal vier Studenten bei der Nightline in München an. Der Nachteil der absoluten Anonymität: Viele kennen das Angebot nicht. Auch Marcel wusste nichts davon. Erst in der Beratungsstelle entdeckte er zufällig ein Kärtchen. Das Zuhörertelefon wurde zu einem wichtigen Begleiter für ihn.

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Heute sitzt Marcel gerne im Park und genießt die Sonne.
Heute sitzt Marcel gerne im Park und genießt die Sonne. Foto: Julia Seeger

Trotzdem glaubt er, es bräuchte mehr. Er findet, dass psychische Krankheiten als genauso normal angesehen werden sollten wie andere. „Wenn ich Zahnschmerzen habe, gehe ich doch auch zum Arzt.“

Sein BWL-Studium hat Marcel inzwischen abgeschlossen, jetzt organisiert er Podiumsdiskussionen und Aktionswochen zur seelischen Gesundheit im Studium: „Mir ist es wichtig, dass wir darüber sprechen.“ Einmal die Woche geht er noch zur Therapie. Ein Klopfen an der Tür soll ihn nie wieder so ängstigen.

Hilfe gesucht?

Wer selbst Sorgen und Ängste hat und jemanden sucht, mit dem er darüber sprechen kann, findet hier ein paar Anlaufstellen:

Fast jede Uni hat Beratungsstellen, an die man sich wenden kann. Am einfachsten findet man sie über die Internetseiten des jeweiligen Studentenwerks: studentenwerke.de

Die Nightline gibt es an 15 deutschen Universitäten. Unter welcher Nummer und an welchen Tagen sie jeweils erreichbar sind, kann man hier nachlesen: nightlines.eu

Außerdem gibt es deutschlandweite Krisentelefone. Die Telefonseelsorge Deutschland beispielsweise erreicht man unter: 0800/111 0 111, 0800/111 0 222 und 116 123

Wer nicht gerne telefoniert, kann auch Online-Angebote nutzen. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet einen anonymen Selbsttest an: www.deutsche-depressionshilfe.de

Außerdem gibt es das Projekt studicare.com. Wissenschaftler verschiedener Universitäten haben für das Onlineangebot Trainings unter anderem zu den Themen Stress, Prüfungsangst, Einsamkeit erstellt – kostenlos und anonym.

Aufmacherillustration: Kim Ihlow