Unter Druck

Nur in seinem Kopf

Paul Richter ist pädophil. Und wird gehasst, obwohl er nie ein Kind angefasst hat. Von einem, der weiß, dass seine Sehnsüchte ein Leben lang unerfüllt bleiben müssen.

„Sowas wie dich sollte man kastrieren, an die Wand stellen und erschießen“, „Ekelhafter, unmenschlicher Kinderficker.“ Paul Richters Stimme klingt nüchtern, als er von den Drohungen erzählt. Erst an diesem Morgen hat jemand geschrieben, dass man ihn wegsperren sollte. Weil er pädophil ist.

Mord- und Folterdrohungen bekommt Richter regelmäßig. Meist in den Online-Foren, in denen er versucht, mehr Verständnis für Menschen mit pädophilen Neigungen zu erreichen. Einmal waren es über 200 an einem Wochenende.

Richter redet leise. Am Ende seiner Sätze steht meistens ein Fragezeichen. Sobald das Gespräch auf etwas anderes als Pädophilie kommt, wird er einsilbig. Alles, was Hinweise auf ihn als Person geben könnte, muss geheim bleiben. Seinen echten Namen möchte Richter nicht preisgeben, selbst das Instrument, das er im Orchester spielt, könnte schon zu viel über ihn verraten. Zu groß ist die Gefahr, den Job zu verlieren, keine Wohnung zu finden, verprügelt zu werden.

Männer mit sexuellem Interesse an Kindern sind eine der am stärksten stigmatisierten Gruppen in Deutschland. In einer Umfrage für die Mikado-Studie wünschen ihnen 27 Prozent der Befragten den Tod. Knapp die Hälfte sähe Pädophile lieber in Präventiv-Haft als in Freiheit. Selbst dann, wenn sie noch nie eine Straftat begangen haben.

Das Thema weckt Ängste, Ekel und Hass. Schließlich geht es um Kinder. In Deutschland werden jährlich mehr als 14.000 Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern angezeigt. Im sogenannten Dunkelfeld, dort, wo es nicht zu Anzeigen kommt, sind es noch viel mehr.

Nicht alle Pädophilen sind Kinderschänder

Das Ausmaß macht wütend – und befeuert den Hass auf Pädophile. „Aber nicht jeder Täter ist pädophil, sagt Rita Steffes-enn, Leiterin des Zentrums für Kriminologie und Polizeiforschung. „60 bis 70 Prozent der erfassten Kindesmissbraucher sind sogenannte Ersatztäter. Sie sind nicht sexuell motiviert, sondern haben andere Gründe für den Missbrauch, zum Beispiel Angst im Umgang mit Erwachsenen und Machtstreben.“

Gleichzeitig vergeht sich nicht jeder Pädophile an Kindern. 56 Prozent der Pädophilen werden nie zu Tätern. Die gesellschaftliche Ächtung trifft trotzdem jeden.

Vergrößern

Aus Angst vor den Folgen eines Outings will Paul Richter anonym bleiben.
Aus Angst vor den Folgen eines Outings will Paul Richter anonym bleiben. Foto: Eva Gemmer

Bei Paul Richter war es das Gefühl, anders zu sein und irgendwie falsch, das ihn zum Einzelgänger gemacht hat. In einer Zeit, in der andere ihren ersten Kuss, ihr erstes Mal erleben, zog er sich zurück. Man sieht ihm an, dass er seine Jugend vor dem Computer verbracht hat. Richter wurde älter, während die Mädchen, die er toll fand, zwölf Jahre alt blieben.

Im Internet wurde Paul Richter zum Täter

Mit dem ersten eigenen Internetzugang kamen die ersten Pornos. Die Erwachsenen, die er auf dem Bildschirm sah, haben Richter aber nie wirklich interessiert. „Bei manchen Sachen habe ich sogar richtig Ekel empfunden.“ Ihm gefiel etwas anderes: Kinder, vor allem Mädchen. Im Urlaub, am Strand, im Bikini. Nackte Kinder. Auch Kinder bei sexuellen Handlungen. Über letztere sagt er: „Da habe ich aber sofort weggedrückt, weil es dann schon schwer war, sich einzureden, dass das noch in Ordnung ist.“

Indem Richter sich Kinderpornographie ansah, wurde er zum Täter. Aufgeflogen ist er nie. Aber der Hass, den er auf sich selbst entwickelte, wurde irgendwann groß genug, um einen Schlussstrich zu ziehen. „Da war ein Punkt, wo mir bewusst geworden ist, was das mit den Kindern macht und dass ich niemals will, dass sie diese Sachen durchmachen müssen.“

Das war auch der Moment, in dem Paul Richter sich eingestanden hat, pädophil zu sein. Der Moment, in dem ihm klar wurde, dass die Gefühle immer wieder zurückkommen werden, egal wie sehr er versucht, sie zu verdrängen. Drei Jahre ist das her, damals war er 22. Jemanden, mit dem er reden konnte, gab es nicht. Die Angst, nicht mehr als Mensch, sondern als Monster gesehen zu werden, war zu groß.

„Dass jeder Mensch mit pädophilen Neigungen ein Monster ist, mit dem man überhaupt nichts gemein hat, stimmt aber einfach nicht“, sagt Sara Jahnke. Die promovierte Psychologin und Mutter forscht an der Universität Jena zum Thema Stigmatisierung von Menschen mit pädophilen Neigungen. In Jahnkes Augen kann das Stigma selbst zu einer Gefahr werden: „Ich vermute, es erhöht das Risiko für sexuelle Straftaten, weil es zu emotionalen Problemen führt und weil dadurch soziale Unterstützung schwerer zu erreichen ist.“

Seitdem Richter sich eingestanden hat, dass er pädophil ist, empfand er seine Sehnsucht nach dem Undenkbaren als immer quälender. „Irgendwann hat es mich innerlich zerrissen, auf der Straße einem Kind einfach nur zu begegnen.“ Richter beschloss, eine Therapie zu machen.

Fünf Fragen an einen Pädophilen: Paul Richter beantwortet sie.

Einen Monat lang hat er mit sich gekämpft, hat wieder und wieder vor dem Badezimmerspiegel geübt, was er sagen will und wie. Dann hat er bei dem „Präventionsprojekt Dunkelfeld“ angerufen. Es ist Teil des Netzwerks „Kein Täter werden“, das deutschlandweit Therapien für Menschen mit pädophilen Neigungen anbietet, anonym und unter Schweigepflicht. Hier sollen die Betroffenen lernen, ein zufriedenes Leben zu führen, ohne ein Kind anzufassen oder Kinderpornografie zu konsumieren.

In der Bahn auf dem Weg zum ersten Einzelgespräch hatte Richter das Gefühl, dass ihm „Pädophiler“ auf die Stirn geschrieben stand. Aus Angst, erkannt zu werden hat er sich einen Kapuzenpullover tief ins Gesicht gezogen. „Ich dachte, dass jeder sehen kann, wo ich hin will und was ich da mache.“ Was Richter da macht, wird seit Anfang des Jahres von der Krankenkasse finanziert, pauschal und anonym, ohne dass er dafür einen Antrag beim Arzt ausfüllen muss.

In der Therapie hat Richter zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht mit jemandem über seine Gefühle gesprochen. Das war vor eineinhalb Jahren. Eineinhalb Jahre, in denen er jede zweite Woche in die Bahn gestiegen und in die Uniklinik gefahren ist, um dort eine Stunde über die Gefühle zu reden, die er nie ausleben darf. Während andere normalerweise schon nach wenigen Sitzungen in Gruppentherapien wechseln, blieb Richter allein mit dem Therapeuten. Er, der sich bis dahin schon seit Jahren von seiner Umwelt isoliert hatte, wäre in einer Gruppe verloren gewesen. So bekam Richter erst einmal Hausaufgaben: Auf Menschen zugehen, Kommilitonen anschreiben, zusammen etwas trinken gehen. „Ich hatte Angst, von allen abgelehnt zu werden und musste erst erkennen, dass das nicht der Fall ist.“ Er ist noch immer nicht da, wo er sein möchte. Aber vor kurzem hatte er seine erste Gruppentherapiesitzung.

Seine Gefühle für Kinder sind geblieben

Richters Gefühle gegenüber Kindern haben sich seitdem nicht verändert. Pädophilie ist nicht heilbar. Aber Richter hat gelernt, damit umzugehen: „Mit dem sexuellen Anteil komme ich inzwischen klar, ich masturbiere und lasse die Fantasien zu. Es ist für mich aber undenkbar, jemals ein Kind zu missbrauchen.“ Die unerfüllbare Sehnsucht nach Nähe, nach Liebe, „nach sowas, was man eine Beziehung nennen könnte“, sind dagegen immer noch da und werden immer da sein.

Lange Zeit fand Richter den Gedanken an eine Beziehung mit Gleichaltrigen absurd. Fragt man ihn heute danach, fällt die Antwort umständlich aus: „So aktuell ist das schon etwas, was ich vielleicht irgendwann einmal nach Möglichkeit versuchen wollen würde, wenn sich die Gelegenheit ergibt.“

Vergangenen Sommer wollte Richter sich einmal nicht mehr verstecken. Bepackt mit Infomaterial kam er zu seiner Mutter und hat ihr alles erzählt. „Erst war sie schockiert“, sagt Richter. „Ich habe ihn groß angeguckt und dann lange geheult,“ sagt seine Mutter. Sie hatte die gleichen Ängste und Vorurteile wie alle anderen: „Alle Pädophilen sind Straftäter, alle Pädophilen missbrauchen Kinder.“ Aber Paul Richter ist ihr Sohn. „Und den Spießrutenlauf, den er durchwandern müsste, wenn das öffentlich würde, den hat er nicht verdient.“

Die Autorinnen erzählen von ihrer Recherche.

Aufmacherillustration: Kim Ihlow