Warum so viele wohnungslose Frauen in Unterkünften festsitzen und wir so wenig von ihnen wissen.
Oben im vierten Stock, gegenüber der Gemeinschaftsduschen, sind sie gestrandet. Angèle Dupont* hat ihr Leben und das ihrer siebenjährigen Tochter in zwei farblose Zimmer gezwängt. Sie sitzt an einem Holztisch, Bautyp Jugendherberge, und stützt erschöpft den Kopf in die Hände. Seit eineinhalb Jahren leben sie hier, in einem Mutter-Kind-Haus für Wohnungslose in München. „Dass ich immer wieder scheitern muss“, sagt Angèle Dupont leise, „das macht mich müde.“
Einen Kommentar zum Thema Wohnungsnot finden Sie am Ende des Textes.
Mehr als ein Viertel aller erwachsenen Wohnungslosen in Deutschland sind Frauen. Ihre Zahl ist laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe e.V. (BAGW) von 2011 bis 2016 von 56.000 auf über 100.000 gestiegen.
Wie belastbar diese Zahlen sind, ist schwer zu sagen – denn das Problem beginnt schon damit, dass fast kein Bundesland eine offizielle Statistik führt. Fest steht aber: Immer mehr Frauen verlieren ihr Zuhause. Wie Angèle Dupont wollen die meisten wieder in einer eigenen Wohnung leben. Dass das nicht klappt, ist ein politisches Problem – die Gründe liegen in den Kommunen, in den Landtagen, aber auch in der Hauptstadt.
Mit Kind ohne Zuhause
Dort hat auch Werena Rosenke ihr Büro, Geschäftsführerin der BAGW. Dass immer mehr Frauen ihr Zuhause verlieren, hängt aus ihrer Sicht damit zusammen, dass sich die Lebensentwürfe von Frauen in den letzten 30 Jahren stark verändert haben.
„Je mehr Frauen alleine leben und auf sich selbst gestellt sind, desto stärker sind sie genauso wie Männer gefährdet, ihre Wohnung zu verlieren“, sagt sie. Hinzu kommt: Frauen sind häufiger prekär beschäftigt, haben häufiger ein geringes Einkommen und sind weitaus häufiger alleinerziehend – und damit besonders von Armut bedroht. Alleinerziehende Frauen, die ihre Wohnung verlieren, müssen nicht nur für sich selbst sorgen, sondern auch dafür, dass ihr Kind ohne ein richtiges Zuhause eine annähernd normale Kindheit verlebt. Das macht die Rückkehr in ein eigenständiges Leben schwer.
Während ihre Tochter Herrade mit der Blockflöte quietscht, rechnet Angèle Dupont auf einem Schmierpapier an ihrer Zukunft herum. Zurzeit kommt sie mit einem 30-Stunden-Aushilfsjob in einer Kita über die Runden, ab Herbst beginnt sie dort eine Ausbildung zur Erzieherin. Rund 800 Euro verdient sie dann. Das wird eng: Miete, Herrades Nachmittagsbetreuung, Strom, Herrades Flötenunterricht, Fahrkarten, Herrades Malkurs. „Mit Kung Fu“, sagt Angèle Dupont, „haben wir schon aufgehört. Herrade, pas de flûte maintenant!“ Schluss mit der Flöte. Angèle Dupont ist Französin, früher hat sie am Theater Kostüme entworfen. In Deutschland lernte sie den Mann kennen, der Herrades Vater wurde. Mit der Trennung verloren sie und Herrade ihr Zuhause – die Wohnung gehörte der Familie ihres Mannes.
Unsichtbar und ungezählt
Ihren richtigen Namen möchte Dupont nicht öffentlich nennen. Die Angst, abgestempelt zu werden, ist groß in einer Gesellschaft, in der Wohnungslosigkeit noch immer als männliches Phänomen gilt. Wohnungslose Frauen sieht man selten auf der Straße, dort droht ihnen Gewalt. Viele leben in verdeckter Obdachlosigkeit: Sie schlafen bei Freunden und Bekannten, wandern von Sofa zu Sofa.
Wie viele es genau sind, wissen die Kommunen meist selbst nicht. Einheitliche Statistiken gibt es nicht, weder in den Städten noch auf Bundesebene. Auf Landesebene veröffentlicht nur Nordrhein-Westfalen einen jährlichen Bericht. Hilfseinrichtungen, die sich speziell an Frauen richten, sind selten, rund 200 sind es laut BAGW deutschlandweit. In Dresden gibt es zum Beispiel keine einzige. In München heißt es von Seiten der Stadt: „Auch wenn das Angebot ständig ausgebaut wird, kann es mit der steigenden Zahl der wohnungslosen Frauen nicht Schritt halten.“
Weder vor noch zurück
Das liegt auch daran, dass Wohnungslose immer länger in den Hilfseinrichtungen bleiben. Auf dem oft umkämpften Wohnungsmarkt in deutschen Städten sind sie meist chancenlos. Mehr als 1,5 Millionen Sozialwohnungen sind seit den 1990er-Jahren bundesweit weggefallen. Allein in München stellen nach Angaben der Stadt jedes Jahr 30.000 Haushalte einen Antrag auf eine geförderte Wohnung, vermittelt werden nur 3.500.
„Früher haben hier noch Makler angerufen, wenn sie eine Wohnung frei hatten. Das kann man inzwischen vergessen.“ Sozialpädagoge Rolf Schlesinger
In dem Mutter-Kind-Haus, in dem Angèle und Herrade Dupont leben, stehen rund hundert Frauen auf der Warteliste. Der Sozialpädagoge Rolf Schlesinger, ein gelassener Schwabe im Karo-Hemd, arbeitet seit Jahrzehnten im Haus. „Früher haben hier noch Makler angerufen, wenn sie eine Wohnung frei hatten,“ erzählt er. „Das kann man inzwischen vergessen.“
Heidemarie Fink* steckt deshalb zwischen zwei Leben fest. In ihrem alten Leben sei sie in ihrer Wohnung überfallen und schwer verletzt worden, erzählt sie. Und das neue Leben, eineinhalb Zimmer mit Katze, lässt auf sich warten. Seit drei Jahren lebt die 43-Jährige in einer betreuten Frauen-WG in München. Täglich sucht sie über Stunden im Internet nach Wohnungsangeboten – ohne Erfolg. Die Überreste ihrer Vergangenheit, verstaut in Kartons, verstauben derweil in einem Lagerraum außerhalb der Stadt.
Notunterkünfte sind keine langfristige Lösung
Um Frauen wie Fink und Dupont zu helfen, reicht es nicht, einfach nur mehr Notunterkünfte zu bauen, sagt Volker Busch-Geertsema. Das Schicksal der Wohnungslosen hat ihn seit seiner Diplomarbeit nicht mehr losgelassen, heute ist er Professor für Sozialwissenschaft in Bremen.
Dass der Bund die Verantwortung für den Wohnungsbau den Ländern überlassen hat, hält er für einen „klaren Fehler“. Es brauche viel mehr kleine Sozialwohnungen; viel mehr Maßnahmen, damit Menschen ihre Wohnung gar nicht erst verlieren. Ideen dazu gibt es viele – sie reichen von frühzeitiger Beratung bis hin zur Übernahme von Mietschulden. „Und man muss einen privilegierten Zugang zu normalem Wohnraum schaffen für diejenigen, die auf dem freien Markt immer leer ausgehen.“
Erst nach jahrzehntelangen Diskussionen hat sich die Arbeits- und Sozialministerkonferenz im Dezember 2017 auf die Einführung einer bundesweiten Statistik zur Wohnungslosigkeit geeinigt. Noch weiß man in den Ministerien und Kommunen zu wenig darüber, wer wo aus welchen Gründen in Wohnungsnot gerät. Im aktuellen Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung zumindest die Absicht erklärt, die Länder wieder beim sozialen Wohnungsbau zu unterstützen.
„Selbst wenn es nur halb so viele Wohnungslose wären, ist das in dieser Größenordnung ein Skandal.“ Sozialwissenschaftler Volker Busch-Geertsema
Derweil schießen die Wohnungslosenzahlen weiter nach oben – in einer der reichsten Industrienationen der Welt. „In dieser Größenordnung, selbst wenn es nur halb so viele wären, ist das ein Skandal“, sagt Volker Busch-Geertsema.
Im April erlebten Angèle und Herrade Dupont eineinhalb Wochen der Hoffnung. Ein Vermieter hörte zu, wollte helfen, und bot den beiden eine kleine Wohnung an, sogar mit Balkon. „Wir haben uns so darauf gefreut.“ Doch die Miete war zu hoch, um vom Amt genehmigt zu werden. In der U-Bahn fing Angèle Dupont an zu weinen. „Macht nichts, Mama“, sagte Herrade ruhig, „wir finden eine andere Wohnung“. Ihrer Mutter fällt es inzwischen schwer, daran zu glauben.
*Der Name wurde von den Autorinnen geändert.
Kommentar von Lea Utz
Wohnungsnot schafft Neid
Wenn Angela L. über den Münchner Wohnungsmarkt spricht, steht in ihren aufgerissenen Augen die Wut. „Den Asylanten werden die Wohnungen doch hinterhergeworfen!“, ruft sie dann. Sie müsse mit ihren 70 Jahren in einer „Drecksspelunke“ leben – so nennt sie die Notunterkunft, in der sie seit der Zwangsräumung die Nächte verbringt. Die Augen geöffnet habe ihr ein Mann namens Michael Stürzenberger. „Ich habe so viel von ihm gelernt!“ Michael Stürzenberger ist ein rechter Extremist, der unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht und den Islam für ein „Krebsgeschwür“ hält.
Wenige deutsche Wohnungslose werden so deutlich wie Angela L., aber viele teilen ihren Zorn. Doch der zielt auf die Falschen ab. Nicht die Geflüchteten sind an der Wohnungsnot schuld, sie leiden darunter, genauso wie Angela L. Schuld ist die jahrzehntelang verfehlte Wohnungspolitik, die die Ärmsten am härtesten trifft. Das spielt rechten Hetzern in die Hände.
Immerhin: Gebaut wird neuerdings viel. Aber das reicht nicht. Entscheidend ist, ob es gelingt, einen gerechten Zugang zum Mietmarkt zu schaffen. Den Menschen, die sich bei der Wohnungssuche am schwersten tun, muss man Privilegien einräumen. Vermieter müssen dazu verpflichtet werden, auch den Interessenten eine Chance zu geben, die nicht mit einer mustergültigen Schufa-Auskunft aufwarten können. Und es muss mehr getan werden, um Zwangsräumungen zu verhindern.
Stattdessen erlebt die Bundesrepublik einen Sommer der Debatten über „Asyltourismus“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“, angeführt von den Seehofers, Dobrindts und Söders. Die CSU hat den Sozialneid von Menschen wie Angela L. geschürt und instrumentalisiert. So verschleiert sie die hausgemachten Probleme, die an der Wurzel der Wut liegen. Die meisten Bürger haben das durchschaut. Es geht ihnen nicht nur um gefühlte Wahrheiten, um vage Ängste und Sorgen, die sich so wunderbar auf Geflüchtete projizieren lassen. Sondern darum, dass sich Lebensrealitäten verbessern. Jenseits der Scheindebatten muss klar werden: Die Wohnungsfrage lässt sich lösen in einem Wohlfahrtstaat wie dem Deutschen. Und zwar ganz ohne Sündenböcke.
Aufmacherillustration und Grafiken: Kim Ihlow